Achim Wagenknecht [homepage] [e-mail]

Augustins philosophischer Grund 

  1. Einleitung
  2. Biographisches
  3. Stoa
  4. Cicero
  5. Aristoteles
  6. Skepsis
  7. Neuplatonismus
    1. Das geistige Etwas
    2. Plotin
  8. Fazit
  9. Literaturverzeichnis

7.1 Das geistige Etwas

An dieser Stelle möchte ich eine systematische Betrachtung einschieben. Im Kern des Neuplatonismus steht nämlich ein Gedankengang, der aus der Philosophie nicht wegzudenken ist, und der sich seine Aktualität durch die Jahrhunderte bis heute bewahrt hat.1 Der Weg, der in den Neuplatonismus und schließlich zum augustinischen Gottesbegriff führt, beginnt bei einem grundlegenden erkenntnistheoretischen Problem: Wir können nichts erkennen in der Welt nur aufgrund von Sinnesdaten. Ein ganz einfaches Beispiel: Jemand sieht einen Baum und sagt: Das ist ein Baum. Was passiert da?

Mensch erkennt Baum.Lichtstrahlen fallen vom Baum auf den Betrachter und erzeugen in irgendeiner Weise in ihm die Erkenntnis: Das ist ein Baum. Es wäre nicht möglich, daß diese Erkenntnis zustandekommt, wenn nicht im Betrachter irgendetwas den ankommenden Sinnesdaten entgegengesetzt würde. Dieses Etwas im Betrachter muß unabhängig von den Sinnesdaten im Betrachter schon vorgegeben sein. Man kann das Problem nicht auf Sprachlernen reduzieren. Denn wie lernt man eine Sprache? Es ist dazu unerläßlich, daß man auf Dinge zeigt und sagt, das ist ein soundso. Schon diese Zeigehandlung setzt bestimmte Annahmen voraus, nämlich daß es in der Welt Dinge gibt, die voneinander unterschieden sind, die aber irgendwie zusammenhängen; und vor allem setzt die Zeigehandlung die diesen Annahmen entsprechenden Fähigkeiten voraus, nämlich die Fähigkeit, irgendetwas als Dasda wahrzunehmen. Wäre das nicht so, könnte ich den Baum nicht erkennen, denn entweder wäre die Welt nur ein einziges Ding und ich könnte auf nichts bestimmtes in ihr zeigen. Ich könnte den Baum nicht von der Wiese unterscheiden auf der er steht, auch nicht von dem Himmel, von dem er sich abhebt. Oder aber die Welt bestünde aus Einzeldingen, die keinen Zusammenhang untereinander haben. Dann könnte ich zwar meine Hand und meinen Finger ausstrecken, aber ich könnte nicht sehen, daß der Finger in Richtung des Baumes zeigt.

 Also besteht die Welt aus Einzeldingen, die untereinander zusammenhängen. Annahmen dieser Art müssen bewußt oder unbewußt schon im Kopf eines jeden Betrachters vorhanden sein, damit er überhaupt aus ankommenden Sinnesdaten eine Erkenntnis bilden kann.

 Wenn die Stoa dem entgegensetzt, der menschliche Geist sei eine tabula rasa2 und die Erkenntnis werde nur durch die Sinnesdaten bewirkt, so kann man dem entgegenhalten, daß auch eine tabula etwas ist, eine Tafel ist ein zweckbestimmtes, gestaltetes Ding, das dazu bestimmt ist, Informationen zu tragen. Eine Tafel ist nicht nichts und eine Tafel ist auch kein zufälliges Bedeutungsloses Formloses. Also gestehen auch die Stoiker zu, daß im menschlichen Geist irgendetwas den Sinnesdaten gegenübersteht.

 Wenn ich mich also an die Stelle der Person in dem Beispiel begebe, dann stelle ich fest, irgendetwas muß in mir, in meinem Geist schon vorher gewesen sein, damit ich den Baum erkennen konnte. Da dieses Etwas in meinem Geist ist, muß es etwas geistiges sein. Es gibt also ein geistiges Etwas, das mich befähigt, Dinge zu erkennen.

 Weiter stelle ich fest, daß die Welt der Dinge allen Menschen gemeinsam ist. Alle bewegen sich in ihr, machen Aussagen über sie. Alle Menschen sind fähig zur Erkenntnis. Also muß auch dieses geistige Etwas, das mich zur Erkenntnis befähigt, allen Menschen gemeinsam sein.

 Ich halte also fest: 1. Es gibt etwas Geistiges in mir, das jeder Erkenntnis vorausgeht. 2. Dieses Etwas ist allen Menschen gemeinsam.

 Die Fragen, die jetzt an diese Überlegungen anknüpfen, sind: Was ist dieses geistige Etwas? Wenn es geistig ist, kann man es dann auch sprachlich fassen? Und vor allem: Wo kommt es her? Die Frage nach der Herkunft könnte man ganz modern damit beantworten, daß dieses geistige Etwas durch die Evolution unseres Gehirns entstanden ist; daß, wie das Auge nach den Gesetzen der Strahlenoptik konstruiert ist, unser Gehirn nach den Gesetzen der Erkenntnis gebaut wurde. Damit hat man aber nicht viel erreicht, denn das Problem ist nicht gelöst, sondern nur verlagert. Und wenn man die offenen Fragen der Evolutionsbiologie betrachtet - aber das ist ein anderes Thema - dann merkt man, daß man aus dem Regen in die Traufe gekommen ist. Ganz abgesehen davon befriedigt diese Antwort diejenigen nicht, die etwa an ein Weiterleben der Seele nach dem Tode glauben, oder überhaupt nur anzweifeln, daß alles Geistige im Gehirn hinreichend begründet ist.

 Außerdem ist diese Antwort gar nicht soweit entfernt von der, die Platon und der Neuplatonismus geben. Wo kommt das geistige Etwas, das aller Erkenntnis vorausgeht, her? Antwort: aus der Evolution des Gehirns. Damit haben wir die Herkunft auf etwas verlegt, das 1. unabhängig vom menschlichen Geist existiert, das 2. für alle Menschen gilt und das 3. den menschlichen Geist, oder zumindest sein Gehirn, hervorgebracht hat.

 Diese drei Aussagen würde jeder Neuplatoniker sofort unterschreiben. Die Position des Neuplatonismus läßt sich von hier aus weiter nachvollziehen:

 Das geistige Etwas, das die Erkenntnis ermöglicht, ist allen Menschen gemeinsam. Ebenso ist allen Menschen gemeinsam die Umwelt, in der sie leben und deren Sinnesdaten sie zu Erkenntnissen verarbeiten. Das legt die Vermutung nahe, daß diese beiden Komponenten, die im menschlichen Geist gemeinsam die Erkenntnis bewirken, auch gewisse Parallelen haben. Also nehmen wir an, daß das geistige Etwas, das in meinem Kopf ist, ebenso einer Art Welt entstammt, wie die Sinnesdaten, die ich wahrnehme, der materiellen Welt entstammen. Diese geistige Welt muß unabhängig von mir existieren, überhaupt unabhängig von Einzelmenschen, denn sie gilt ja für alle Menschen. Es handelt sich also um eine Seinssphäre, die unabhängig von der materiellen Welt besteht, und mit der wir durch unser Bewußtsein verbunden sind. Mit der Annahme dieser geistigen Welt ist die erkenntnistheoretische Teilung zwischen Subjekt und Objekt ontologisch auf das Seiende übertragen worden. Die historisch erste Antwort auf die Frage: Wo kommt dieses geistige Etwas her, das die Erkenntnis ermöglicht? kommt von Platon und besteht in seiner Ideenlehre: Den materiellen Dingen in der Welt stehen immaterielle geistige Dinge gegenüber, die Erkenntnis ermöglichen.

Während aber bei Platon noch die Ideenlehre vor allem erkenntnistheoretisch gedacht ist, wird sie bei Plotin und besonders bei Augustin später von einer Erkenntnistheorie zu einer Ontologie, Weltanschauung und Heilslehre.

 Das ist vielleicht begründet in der Lebenswelt dieser spätantiken Denker. Sie lebten in einer Zeit der Krisen und Erschütterungen, das römische Reich verfiel mehr und mehr. Sie verspürten ein Bedürfnis nach Erlösung und Geborgenheit3. Mit diesem Bedürfnis hängt es vielleicht zusammen, daß sie Platons Ideenwelt zu einer Sphäre der Ruhe und Glückseligkeit ausbauten.

 Nach dieser Lehre sind die Ideen in einer Welt angesiedelt, die über unserer Sinnenwelt liegt und wirklicher und beständiger ist. Hier hat eine ganz deutliche Verschiebung des Schwerpunktes stattgefunden: Wenn man zunächst feststellt, daß Sinneseindrücke allein für die Erkenntnis nicht ausreichen, so impliziert das eine Existenzaussage: Da muß irgendwas Geistiges in mir sein, das mich zur Erkenntnis befähigt. Demgegenüber steht im Vulgärplatonismus eine All-Aussage: jedes Ding in dieser Welt hat sein Urbild in einer jenseitigen Welt.

1 Vergl. für das folgende Hogrebe, Prädikation und Genesis, Frankfurt/Main 1989, S.42ff.
2 Hirschberger S.249.
3 Schubert, Venanz: Plotin, Freiburg/München 1973, S.29. Nächster Abschnitt


Dieser Text wurde im Sommersemester 1992 am Philosophischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als Hausarbeit zum Hauptseminar Augustinus - ausgewählte Texte unter der Leitung von Prof. Dr. Norbert Henrichs von Achim Wagenknecht verfaßt.
http://achimwagenknecht.de
Zuletzt aktualisiert am 09.02.2006