Achim Wagenknecht [homepage] [e-mail]

Augustins philosophischer Grund 

  1. Einleitung
  2. Biographisches
  3. Stoa
  4. Cicero
  5. Aristoteles
  6. Skepsis
  7. Neuplatonismus
    1. Das geistige Etwas
    2. Plotin
  8. Fazit
  9. Literaturverzeichnis

3. Stoa

Was ist die Stoa?

Die Stoa wurde 300 vor Christus von Zenon aus Kition begründet. Die ältere Stoa wurde außerdem von Kleanthes und Chrysippos vertreten; die mittlere Stoa vor allem von Panaitios und Poseidonios. Die jüngere Stoa, die erhebliche Breitenwirkung erzielte, und in deren Einfluß auch Augustinus steht, vertreten hauptsächlich Seneca, Epiktet und Marcus Aurelius.1

 Die Stoa und insbesondere ihre Ethik ist zu Augustins Zeit die vorherrschende philosophische Lehrmeinung. Einige ihrer Lehrsätze übernimmt Augustinus unhinterfragt.2 Die stoische Lehre teilt sich auf in Dialektik, Physik und Ethik.3

 Unter Dialektik versteht man in diesem Zusammenhang die Logik, von der Augustinus stark beeinflußt wurde4, was hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden soll.

 Ihre erkenntnistheoretische These, Erkenntnis gehe von der Wahrnehmung der Einzeldinge aus5, erteilt er jedoch eine Absage. Auch wenn Augustinus oft gegen die Stoiker schreibt, zeigt doch gerade das ihren Einfluß.6

Die stoische Physik

Die Physik der Stoa, das ist ihre Lehre von den Naturdingen, war monistisch - es gibt nur ein Prinzip -, materialistisch - es gibt nur Körperliches - und pantheistisch - Gott ist in der Natur7. Da in einer pantheistischen Naturlehre die Natur vom Göttlichen durchdrungen ist, liegt es nahe, die Theologie in die Physik einzubeziehen, was die Stoiker auch taten.8

 Einige von Augustins grundlegenden Glaubenssätzen zeigen Ähnlichkeiten mit der stoischen Physik. So schreibt Augustin in den Bekenntnissen9, die als Gespräch mit Gott formuliert sind, er habe stets geglaubt,

daß du bist, daß du unveränderlichen Wesens bist, daß du dich um die Menschen kümmerst und daß du sie richtest.

 Cicero sagt in einem Werk, das Augustin kannte10, ganz Ähnliches über das, was die Stoiker vertreten:

 Zuerst beweisen sie die Existenz der Götter, dann ihre Eigenschaften, drittens, daß die Welt von ihnen geleitet wird, und schließlich, daß sie sich der menschlichen Angelegenheiten annehmen.11

 Auch den Einfluß des Materialismus bekennt Augustin:

 konnte ich mir doch kein Wesen anders denken denn als körperlich sichtbar.12

 Und wie sehr er sich dem Pantheismus näherte, stellt Augustinus in den Bekenntnissen besonders deutlich heraus:

 Und so dachte ich auch dich, Leben meines Lebens, als eine große Masse in unendlichen Räumen, die den ganzen Weltstoff durchdringt und sich außerhalb seiner durch unendliche Räume ohne Grenzue verbreitet, so daß sie Erde, Himmel und alles in sich enthalte, und alles in ihr eine Grenze finde, du aber nirgends begrenzt seist. Und wie das Stoffliche dieser Luft, die über der Erde liegt, dem Sonnenlicht nicht widersteht, sondern die Lichtstrahlen übermittelt, die sie durchdringen ohne sie zu zerreißen oder zu zerschneiden, sondern indem sie sie ganz erfüllen, so, glaubte ich, seien das Stoffliche nicht nur des Himmels, der Luft und des Meeres, sondern auch der Erde durchlässig für dich, und es sei in seinen größten wie in seinen kleinsten Teilen von dir zu durchdringen, um so deine Anwesenheit in sich aufzunehmen, der du wie mit einem verborgenen Hauch von innen und von außen alles lenkst, was du erschaffen hast.13

 Es zeigt sich also, daß Affinitäten zur Physik der Stoa bei Augustin nachweisbar sind.
 

Die stoische Ethik

 Den größten Einfluß auf Augustinus hatte jedoch die stoische Ethik, die durch ihren Naturbegriff geprägt war.

 Das oberste Ziel jedes Menschen ist - und das gilt, seit Aristoteles es als erster ausgesprochen hat, nahezu unbestritten - glücklich zu werden.14 Um den Weg zur Glückseligkeit kreiste die stoische Ethik15 und auch Augustinus stellt sein Denken ganz in diese Tradition.16 Die stoische Losung für den Weg zum Glück ist: naturgemäß leben. Natur heißt im damaligen Verständnis immer zunächst Natur von etwas und bezeichnet die Art, wie etwas gewachsen ist, seine Beschaffenheit, sein Wesen. Deshalb kann die Rede vom naturgemäßen Leben folgende drei Bedeutungen haben:

 1. Naturgemäß leben heißt leben nach meiner eigenen Natur. Die Natur eines Menschen bedeutet seine psychische und physische Beschaffenheit, Fähigkeiten, Anlagen, Stärken und Schwächen. So ist es sicher keine gute Idee, Medizin zu studieren, wenn man kein Blut sehen kann, oder Uhrmacher zu werden, wenn man zwei linke Hände hat. Um glücklich zu werden sollte man also seine eigene Natur, seine eigene Beschaffenheit, gut kennen.

 2. Naturgemäß leben heißt auch nach der Natur des Menschen allgemein zu leben, an der jeder Einzelmensch durch sein Menschsein teilhat. Auch das ist zunächst leicht einzusehen, dann Menschen haben bestimmte Eigenschaften, die sie von anderen Lebewesen unterscheiden, und nur Verrückte kommen auf die Idee, das Leben eines Vogels, einer Eidechse oder sonst eines anderen Lebewesens führen zu wollen. In derart grober Form wird die Beschaffenheit des Menschen zwar nicht mißachtet, aber in Detailfragen ist sie durchaus umstritten, zum Beispiel wenn es darum geht, ob es der Natur des Menschen entspricht, mit dem Auto zu fahren, sitzende Tätigkeiten auszuüben oder sich von Mensa-Mahlzeiten zu ernähren. Derart moderne Fragen spielten in der Stoa natürlich keine Rolle, sondern die Stoiker hatten ihr eigenes Konzept von der Natur des Menschen, ein Konzept mit weitreichenden Konsequenzen. Nach stoischer Lehre besteht die Natur des Menschen in der Vernunft und das begründet sich wie folgt: Tiere haben keine Vernunft, der Mensch besitzt sie. Deshalb wird die Vernunft seit Aristoteles zur Definition des Menschen benutzt.17 Diese Definition wird nicht als Nominaldefinition verstanden, die Vernunft nicht einfach als Unterscheidungsmerkmal. Als Wesensdefinition dient sie nicht nur dazu, den Menschen im Sprachgebrauch zu fixieren, sondern dazu, seine innere Beschaffenheit zu erfassen. Damit wird sie auch zur Leitlinie für die Ethik.

 3. Schließlich kann naturgemäß leben auch noch heißen, der Beschaffenheit der Welt gemäß zu leben. Natur als Beschaffenheit der Welt - diese Facette des antiken Naturbegriffs kommt dem heutigen Alltagsverständnis noch am nächsten: Natur im Sinne von Umwelt, Welt, Ökosystem, Naherholungsgebiet usw. Aber auch in diesem Sinne wird die Natur von der Stoa wesentlich anders gedacht als im modernen Alltagsverständnis, nämlich pantheistisch und vernünftig. Da die Natur in der Stoa pantheistisch gedacht wird, kann naturgemäß leben auch heißen, gemäß der natürlichen Ordnung der Welt zu leben und damit dem Willen Gottes oder der Götter zu folgen. Daß die Natur als vernünftig gedacht wird, läßt sich etwa wie folgt nachvollziehen:

 Aus der Erfahrung, daß Erkenntnis der Natur mit Vernunft möglich ist, kann man folgern, daß Strukturen, die der menschlichen Vernunft ähneln, in der Außenwelt, in der Natur, in irgendeiner Form präsent sein müssen. Denn wenn das menschliche Gehirn und die ihm innewohnende Vernunft ihrer Umwelt absolut unähnlich wären, und keinerlei Strukturanalogien zwischen Bewußtseinsvorgängen und Naturvorgängen bestünden, dann wäre Naturerkenntnis unmöglich18. Daraus schließt die Stoa, daß die Natur an sich vernünftig sein müsse. Genau wie bei der Natur des Menschen wird hier ein Aspekt der Sache zum Wesen der Sache erklärt, eine logisch zweifelhafte Vorgehensweise.

 Doch der eigentliche Fehler der Stoa bestand nicht in diesen logisch zweifelhaften Bestimmungen von Mensch und Welt, sondern darin, diese Bestimmungen zu verabsolutieren und andere Aspekte auszuschließen und negativ zu bewerten. In einem Aufsatz von Dieter Bremer19 heißt es dazu:

 Und nun kommt das Paradox. Die Stoa hat nicht nur Begriffe verbunden, so physis und logos, sie hat auch Begriffe getrennt, so logos und pathos, 'Vernunft' und 'Leidenschaft' bzw. 'Affekt'. Aus der seit Platon bekannten Opposition von logos und pathos und der radikalstoischen Forderung nach Herrschaft des logos folgt der idealtypische Zustand des Menschen als Weisen: apatheia. Die Identität von logos und physis läßt die unvernünftigen Affekte und Leidenschaften als widernatürlich erscheinen - alogos kai para physin heißt die psychische Bewegung, die das pathos kennzeichnet. Selbst bei Platon gehörten die Triebe und Leidenschaften zur natürlichen Verfassung des Menschen; jetzt werden sie als widernatürlich aus seiner Vernunftnatur exkommuniziert. Damit ist eine Position grundgelegt, deren natur- und sinnenfeindlicher Rigorismus die asketischen Züge der platonischen Ethik weit hinter sich läßt - nicht zuletzt in ihren immensen geschichtlichen Folgen, bis Kant und darüber hinaus. In anthropologischer Hinsicht bedeutet die stoische Gleichung von physis und logos die Reduktion der physis auf logos: Natürlichkeit ist Vernünftigkeit, das Wesen des Menschen ist Vernunft und nichts außerdem. Affekte und Leidenschaften sind als Verwirrungen der menschlichen Natur Perversionen und Fehlurteile der Vernunft (...)

 Dies ist das Programm, zu dem auch Augustinus sich bekennt: Glückssuche durch Vernunft und Verdammung des Körpers, der Sinne und der Leidenschaften20. Wenn er diesen Rahmen auch neuplatonisch ausfüllt, so ist doch dieses Grundmotiv eine Konstante seiner Philosophie, und Augustinus ein Erbe der Stoa.

1 Hirschberger, Johannes: Geschichte der Philosophie, Bd.1, S.247/248.
2 Flasch S.23-26.
3 Hirschberger S.249.
4 Flasch S.23.
5 Hirschberger S.249.
6 Flasch S.24.
7 Hirschberger S.253.
8 Flasch S.25.
9 Bekenntnisse 7,7,11, Reclam S.180.
10 Flasch S.25.
11 Cicero, Vom Wesen der Götter, 2,3; Gerlach/Bayer S.147.
12 Bekenntnisse 7,1,1, Reclam S.169.
13 Bekenntnisse 7,1,2, Reclam S.170.
14 Bremer , Dieter: Von der Physis zur Natur, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 1989, S.241-264, S.256.
15 Ebenda.
16 Flasch S.21: "... sein Erkenntnisinteresse galt der Glückssicherung".
17 Vergl. z.B. Aristoteles, Politik 1253a9, dtv S.49.
18 Vergl. Hogrebe, Prädikation und Genesis, S.43.
19 Bremer S.257.
20 Vergl. z.B. de beata vita 25, Reclam S.45; Bekenntnisse 2,1,1ff; Reclam S.57f. Nächster Abschnitt


Dieser Text wurde im Sommersemester 1992 am Philosophischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als Hausarbeit zum Hauptseminar Augustinus - ausgewählte Texte unter der Leitung von Prof. Dr. Norbert Henrichs von Achim Wagenknecht verfaßt.
http://achimwagenknecht.de
Zuletzt aktualisiert am 09.02.2006