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Saccheris Definitionslehre

1. Einleitung

2. Definition allgemein

3. Die Realdefinition

4. Saccheris Definitionsregeln

5. Die Nominaldefinition

6. Zusammenfassung

7. Literatur

 

Glossar der Symbole

 

5. Die Nominaldefinition

Die Nominaldefinition genießt bei Saccheri eindeutig den Vorzug. Sie muß jedem anderen Konzept der Sache vorausgehen1, sie gilt immer2, sie begründet jede Aussage über den Gegenstand3, jede andere Definition muß aus ihr bewiesen werden4, sie kann in keine Kontroverse geraten5 und alles wissenschaftliche Wissen muß zu ihr führen6. Von der Realdefinition unterscheidet sie sich nur durch ein Existenzpostulat, sogar Axiome müssen von ihr aus verstanden werden7.

Will man nun erfahren, wie man eine solche Nominaldefinition bildet, so sucht man eine explizite Anleitung dazu bei Saccheri vergeblich. Man muß verschiedene Textstellen vergleichen und interpretieren, um eine solche Anleitung zu erhalten. Saccheri sagt über die Nominaldefinition:

Die strenge Interpretation, oder die Definition des Namens ist das, was erklärt, was durch das Wort bezeichnet wird; und was geeignet ist, zu einer Definition des Sinnes der Sache (Realdefinition) zu werden durch Zuhilfenahme eines Postulates; oder was zu einer Realdefinition wird, wenn es zu der Frage kommt, ob das Ding existiert und diese Frage zustimmend beantwortet wird.
(Logica S.186)

Um die Eignung zur Realdefinition zu erlangen, muß die Nominaldefinition die Definitionsregeln R1 und R2 erfüllen, denn diese gelten für jede Realdefinition, also sowohl für die essentielle Definition als auch für die Deskription: Das Definiens muß klarer sein als das Definiendum und beide müssen vertauschbar sein. Saccheri verteidigt später die These, daß jeder Ausdruck, der Nominaldefinition genannt werden kann, diese Regeln erfüllt. So sagt er, die Nominaldefinition sei auf jeden Fall klarer als ihr Definiendum, weil

das von ihr Definierte, das vor der Nominaldefinition gewußt werden müßte, das Allerunbekannteste ist, viel unbekannter als die Definition, denn es ist überhaupt nicht bekannt.
(Logica S.196)

Das setzt natürlich Saccheris Lehrsatz vier voraus:

Die Nominaldefinition muß jedem anderen Konzept der durch das Wort bezeichneten Sache vorangehen.

Dies betrachtet Saccheri als hinreichende Voraussetzung dafür, daß die Definition klarer ist als das zu Definierende. Diese Ansicht läßt sich in zwei Punkten angreifen:

a) Daß ein Begriff nicht definiert ist, heißt nicht, daß er völlig unbekannt ist. Saccheri ignoriert hier die Möglichkeit des außerwissenschaftlichen Vorwissens. Deshalb ist die Formulierung, nach der das Definiens aus bereits definierten Begriffen oder Grundbegriffen bestehen muß, vorzuziehen.

b) Daß das Definiendum völlig unbekannt ist, heißt noch lange nicht, daß das Definiens deswegen bekannt sein muß. Es ist immerhin möglich, daß eine Definition Begriffe enthält, die ebenso unbekannt, unklar und dunkel sind wie der zu definierende Begriff.

Daß Definiens und Definiendum vertauschbar sein müssen, ist in Saccheris Lehrsatz 3 enthalten, der eigentlich zwei Regeln umfaßt.

Er ist formuliert in Begriffen der Suppositionslehre, die im ersten Kapitel der Logica eingeführt wurden. Diese Lehre beschreibt den Gebrauch eines Wortes in einer Aussage unter anderem mit folgenden Begriffen:8

- Materiale Supposition liegt vor, wenn ein Wort nur für sich selbst steht.

- Formale Supposition dagegen besteht, wenn das Wort irgendein Ding bezeichnet.

Die formale Supposition bildet den Normalfall. In fast allen Fällen bezeichnet ein Wort irgendetwas; frei von jeder Bedeutung sind nur unbekannte Wörter, nur diese können eigentlich in materialer Supposition stehen. Will man ein bekanntes Wort in materialer Supposition gebrauchen, so muß man darauf hinweisen, daß von jeder Bedeutung des Wortes abzusehen ist.

Saccheri wendet diese Begriffe in Lehrsatz 3 in Kapitel 4 auf die Nominaldefinition an:

In der Nominaldefinition ersetzt das Subjekt, von dem die Definition ausgesagt wird, rein material,
oder wenn formal, dann ist es eingesetzt für genau das Ding, für das das Prädikat eingesetzt ist, nicht nur der Sache nach, sondern auch in Gedanken.

(Der Ausdruck "supponit", ist hier mit "ersetzt" wiedergegeben.)

Nach Saccheris Suppositionslehre bedeutet das soviel wie:

Eine Nominaldefinition ist eine Festsetzung über die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks, des Definiendums, des zu definierenden Ausdrucks, der bisher noch keine Bedeutung hatte (oder von dessen bisheriger Bedeutung man im betreffenden Kontext gänzlich absehen will).
(Kutschera/Breitkopf: Einführung in die moderne Logik, S.143)

Dies entspricht genau der Erklärung für materiale Supposition.

Was den Zusatz "oder wenn formal..." angeht: Formale Supposition des Subjektes für das Prädikat entspricht der Vertauschbarkeit beider, wie Saccheri auch in einem Beispiel deutlich macht, in dem er die formale Supposition in die folgende Tautologie auflöst:

Die Kontradiktionen zweier Kontrarien, die ich Subkontrarien nenne, sind die Kontradiktionen zweier Kontrarien.

So fordert also dieser Lehrsatz die Regel R2 - Äquivalenz - auch für Nominaldefinitionen.

Zusammengefaßt, präzisiert und sprachlich modernisiert lauten Saccheris Regeln für eine korrekte Nominaldefinition also wie folgt:

1. Das Definiendum muß neu sein, das heißt es hat entweder noch keine Bedeutung, oder von seiner Bedeutung wird im betreffenden Zusammenhang gänzlich abgesehen.
(Lehrs.3 Teil 1, Lehrs.4)

2. Das Definiens muß aus bereits definierten Begriffen oder Grundbegriffen bestehen.
(R1, nach Saccheri für Nominaldefinitionen kein normativer sondern eine deskriptiver Satz.)

3. Die Definition hat die Form
/\x: <Px <=> Qx>
(R2, Lehrs.3 Teil 2)

Damit wäre soweit alles klar, wäre da nicht noch der fünfte Lehrsatz des vierten Kapitels:

Jede Nominaldefinition ist gültig. (Logica S.195)

Dieser Lehrsatz könnte völliger Beliebigkeit Tür und Tor öffnen, aber Saccheris Erläuterungen dazu lassen erkennen, daß er so nicht gemeint ist. Die Behauptung beliebiger Gültigkeit bezieht sich ja auf die Klasse der Nominaldefinitionen, und wenn ein Ausdruck Nominaldefinition genannt werden kann, dann erfüllt er nach Saccheri schon die obengenannten Bedingungen für eine korrekte Nominaldefinition.9


1 Lehrsatz 4, Logica S.193
2 Lehrsatz 5, Logica S.195
3 Lehrsatz 2, Logica S.191
4 Lehrsatz 6, Logica S.198
5 Lehrsatz 8, Logica S.200
6 Lehrsatz 7, Logica S.199
7 Kapitel 5, Lehrsatz 2
8 Logica S.6/7
9 Vergl. Logica S.195/196

Diese Interpretation ist im Sommersemester 1992 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als Hausarbeit zum Hauptseminar: G. Saccheri, Logica demonstrativa unter der Leitung von Prof. Dr. Hartmut Brands entstanden. Ich möchte diese Veröffentlichung dem Andenken des viel zu früh verstorbenen Professor Brands widmen, bei dem ich gerne noch mehr über Logik und Wissenschaftstheorie gelernt hätte.
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Zuletzt aktualisiert am 09.02.2006