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Girolamo Saccheri: Logica Demonstrativa

Teil II, Kapitel 3 und 4

Drittes Kapitel
Was und wievielerlei
Art das Prinzip ist

[Real- und Nominaldefinition]
[Axiom, Hypothese, Postulat]

Viertes Kapitel
Über die Definition

    Erster Lehrsatz
    Zweiter Lehrsatz
    Dritter Lehrsatz
    Vierter Lehrsatz
    Fünfter Lehrsatz
    Sechster Lehrsatz
    Siebter Lehrsatz
    Achter Lehrsatz

 

Viertes Kapitel: Über die Definition

Erster Lehrsatz1

Die essentielle Definition ist kein notwendiges Prinzip des Wissens. Beweis. [Syllogismus:]
[A] Das ist nicht ein notwendiges Prinzip des Wissens, was eine wissensmäßige Konklusion ist. [B] Eine essentielle Definition kann aber eine wissensmäßige Konklusion sein. [K] Deshalb ist eine essentielle Definition kein notwendiges Prinzip des Wissens.

Der Obersatz ist klar, denn [Syllogismus:]
[C!] das, was ein notwendiges Prinzip des Wissens in irgendeiner Gattung oder Ordnung ist, kann nicht in derselben Ordnung irgendetwas vor sich haben. [D!] Aber das was eine wissensmäßige Konklusion ist, hat etwas anderes, welches ihm vorausgeht, nämlich die Prämissen. [A] Deshalb ist das kein notwendiges Prinzip des Wissens, was eine wissensmäßige Konklusion sein kann.

Der Untersatz wird nun bewiesen [Syllogismus]:
[E!] Anstelle der essentiellen und strengen Definition kann eine weniger strenge und deskriptive Definition gesetzt werden. [F] Aber eine deskriptive Definition ist ein hinreichendes Prinzip, von dem eine essentielle Definition abgeleitet werden kann. [B] Also kann die essentielle Definition eine wissensmäßige Konklusion sein.

Beweis des Untersatzes.[Syllogismus]
[G!] Die deskriptive Definition, wenn sie korrekt ist, gehört nur zum Definierten und zu jedem Definierten; [H] von einem Prädikat aber, das zu jedem der definierten Dinge und nur zu diesen gehört, kann eine essentielle Definition abgeleitet werden. [F] Also ist die deskriptive Definition ein hinreichendes Prinzip, aus dem
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eine essentielle Definition abgeleitet werden kann.

Beweis des Untersatzes.[Syllogismus:]
[I!] Ein Prädikat, das zu allen definierten Dingen und nur zu diesen gehört, ist ein Ausdruck, der vertauschbar ist mit jedem anderen Prädikat überhaupt, das zu allen den definierten Dingen und nur zu diesen gehört, wie leicht bewiesen werden kann.2 [J!] Aber die essentielle Definition ist eines der Prädikate, die auf alle definierten Dinge und nur auf diese anwendbar sind. [H] Deshalb ist ein Prädikat, das auf alle definierten Dinge und nur auf diese zutrifft, vertauschbar mit einer essentiellen Definition. Also kann aus einem Prädikat, das allem Definierten und nur diesem zukommt, eine essentielle Definition abgeleitet werden.
[K] Weshalb die essentielle Definition kein notwendiges Prinzip des Wissens ist. Was zu beweisen war.3

Um der Klarheit willen sei dies ein Beispiel. Die essentielle Definition von subkonträren Propositionen ist, daß sie die Kontradiktionen zweier konträren Propositionen sind. Ihre Beschreibung ist, daß sie Propositionen sind, deren Form ihnen erlaubt, zusammen falsch zu sein, aber nicht genauso, zusammen wahr zu sein. Nichtsdestotrotz haben wir aus dieser Eigenschaft subkonträrer Propositionen ihre essentielle Definition bewiesen, wie es im sechsten Folgesatz nach Lehrsatz acht in Kapitel vier beschrieben ist.4
 

Folgerung

Daher hat man es, daß die essentielle Definition sehr oft der Ertrag einer langen Reihe von Beweisen über irgendein Objekt ist. Denn die Gattung und die nächste Differenz kann nicht anders bestimmt werden5, außer nach langer Untersuchung der Eigenschaften oder Prädikate, die zu einem Gegenstand gehören. Ich sagte
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oft, weil es passieren mag, daß die Nominaldefinition, die am Anfang aufgestellt worden ist, die essentielle Definition selbst ist. Daß es sich aber um die essentielle Definition handelt, kann kaum am Anfang festgestellt werden, wie die Erfahrung zeigt. Weshalb wenigstens die rückbezogene Kenntnis, daß irgendeine Definition essentiell ist, immer das Ergebnis einiger Beweise sein wird. 


1 Da die Logica vermutlich aus einem Vorlesungsskript entstanden ist, habe ich Propositio mit Lehrsatz übersetzt.
2 I formalisiert: [/\y:(y=x=>Py) & (x#y=>-Py)&(x=y=>Qy)&(x#y=>-Qy)]=> [Py]. Das kann tatsächlich leicht bewiesen werden.
3 I!+J!=>H, G!+H=>F, E!+F=>B, C!+D!=>A, A+B=>K.
C=Def(Prinzip), D=Def(Konklusion), R2=>G,J; E,I: Behauptungen.
4 Im ersten Teil der Logica.
5 Constare potest de genere.

Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Achim Wagenknecht
Die Logica Demonstrativa im Karlsruher virtuellen Katalog finden.
Die Seitenzahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf die Ausgabe der Logica von 1697. Anmerkungen in eckigen Klammern und Fußnoten sind von mir. Für wertvolle Anregungen zur Übersetzung möchte ich mich bei Herrn Christoph Kann bedanken.
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Zuletzt aktualisiert am 09.02.2006