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Platon und die schwarze Kiste


(zu Platon: Menon 70a 79e)
  1. Einleitung
  2. Gesucht: Definition
  3. Definitionsversuche
  4. Fazit

 
 
 
 

 

3. Definitionsversuche

Ich will im folgenden nur auf drei der fünf Definitionsversuche im Text eingehen. Sokrates Beispiele lasse ich ganz weg.

Zuerst versucht Menon die Tugend über soziale Rollen zu definieren. Er sagt:

Willst du die Tugend des Weibes, so ist auch nicht schwer zu beschreiben, daß sie das Hauswesen gut verwalten muß, alles im Hause gut im Stand haltend und dem Manne gehorchend. (7le)
Für den Mann definiert er die Tugend in ähnlicher Form; für Knaben, Mädchen, Knechte, Freie und noch gar viele andere behauptet er die Existenz solcher Definitionen. Tugendhaft ist demnach der, der die ihm zugewiesene soziale Rolle gut ausfüllt, der seine Pflicht tut. Man kann Tugend durchaus so definieren, ein System von Einzeltugenden entwickeln und dieses auf ein System von Pflichten und sozialen Rollen zurückführen. Diese Definition der Tugend ist weitverbreitet und sehr erfolgreich. Sie steht und fällt mit dem sozialen Rollensystem. Solange dieses System erlaubt, von jedem Menschen zu sagen:
  • Ihr kommt die und die Rolle zu.
  • Sie füllt ihre Rolle gut aus. oder
  • Sie füllt ihre Rolle schlecht aus,
solange hat man ein Kriterium, mit dem man das Handeln dieses Menschen als tugendhaft oder schlecht bewerten kann. Menon glaubt, daß das so ist:
Denn nach jeder Handlungsweise und jedem Alter hat für jedes Geschäft jeder von uns seine Tugend, und ebenso auch, Sokrates, glaube ich, seine Schlechtigkeit. (72a)
Damit hat der Tugendbegriff seine Aufgabe erfüllt. Für das Black-Box-Modell ist das eine hinreichende erste Definition. Der Tugendbegriff ist eine Etikettiermaschine. Vorne steckt man Handlungen von Menschen hinein, die hinten mit einem Aufkleber wieder herauskommen: Gut, Tugendhaft, oder Schlecht steht darauf. Die Handlungen der Menschen werden bewertet, man ordnet ihnen Tugend oder Schlechtigkeit zu. Unbekannt bleibt zunächst der Mechanismus der Bewertung im Innern der schwarzen Kiste. Das soll ja auch so sein. Die Definition hat sich auf Bekanntes zu stützen und das Unbekannte zu umschreiben, es einzugrenzen. Die Funktion der Definition im Erkenntnisprozeß wird hier klar: die Definition soll Ansatzpunkt sein für weitere Bemühungen um die Sache. Die Erkenntnis vollendet sich nicht in der Definition, sondern beginnt mit ihr. Die Definition einer Black Box ist stets das unvollkommene Wissen, das uns zu weiterem Erkenntnisstreben anspornen Soll. Die Gefahr des Modells ist, das zu vergessen und sich mit Trivialem zufriedenzugeben.

So hat Sokrates recht, wenn er mit Menons erster Definition unzufrieden ist. Er hat aber unrecht, wenn er sie wegen ihrer Unvollkommenheit verwirft. Und er verrät sich dadurch, daß er implizit diesen Tugendbegriff benutzt, wenn er menschliches Handeln bewertet, zum Beispiel indem er sagt:

Ein Kind oder Greis, die zügellos wären und ungerecht, könnten die wohl gut sein? (75b)
Hier erlaubt er sogar einen ersten Einblick in die Black Box. In dem Bewertungsvorgang spielen offenbar Begriffe wie zügellos, ungerecht, beziehungsweise deren Gegenteile besonnen und gerecht eine Rolle.

Im nächsten Abschnitt geht er sogar noch weiter. Im zweiten Anlauf definiert Menon die Tugend als: daß man vermöge, über die Menschen zu herrschen. (75c) Darauf zeigt Sokrates, daß diese Definition nicht funktioniert:

Aber ist das auch die Tugend eines Kindes, Menon, und eines Knechtes, daß er vermöge zu herrschen über seinen Herrn? (75d)
Er testet die Definition in der Anwendung. Damit folgt er dem Black-Box-Modell, in dem man das etwa so beschreiben könnte:

Bis jetzt enthält die Black Box einen intuitiven, nicht präzise formulierten Tugendbegriff. Man baut dann aus dem Bewertungsapparat diesen Begriff aus und ersetzt ihn durch eine explizite Definition. Danach untersucht man, ob die Funktion sich geändert hat. Das ist hier der Fall. Wenn vorher ein Kind seine Mutter tyrannisierte, und ihr seinen Willen aufzwang, so wurde das als schlecht bewertet. Jetzt wäre es tugendhaft. Ein so eklatanter Widerspruch zum intuitiven Vorverständnis disqualifiziert die Definition.

Im weiteren Verlauf des Dialoges bringt Sokrates Beispiele für Definitionen. Dabei klären sich einige Randbedingungen:

  1. Anlaß und erste Bedingung für die Suche nach einer Definition ist stets der Name einer Sache. (74d)
  2. Die Definition eines Oberbegriffes besteht nicht in der Gleichsetzung seiner Unterbegriffe. (74e)
  3. Die Definition darf nur Wörter benutzen, welche der Fragende ebenfalls zu verstehen zugibt. (75d, siehe auch 79d)
Diesem Exkurs folgen zwei weitere Definitionsversuche, beziehungsweise zwei Versionen des gleichen Versuches, die sich beide nicht halten lassen.

Eingehen will ich noch auf den letzten Definitionsversuch, den Sokrates einbringt, um ihn gleich wieder zu verwerfen:

...es scheint, was nur mit Gerechtigkeit geschieht, wird Tugend sein, was aber ohne alles dergleichen, das Schlechtigkeit. (78e)
Dagegen wendet er ein, daß der Tugendbegriff dem Begriff Gerechtigkeit vorausgehen müsse, daß man nicht ein Teil der Sache zu Definition des Ganzen benutzen könne, weil dieser Teil, solange das Ganze noch nicht definiert sei, ebenfalls unbekannt sei. Er sagt:
... glaubst du, einer kenne einen Teil der Tugend, was er ist, der nicht weiß, was sie selbst ist? Menon: Das denke ich wohl nicht.
Nach Sokrates muß also die Erkenntnis des Ganzen, des Oberbegriffes, des Wesens immer der Erkenntnis von Teilen, Unterbegriffen oder äußeren Erscheinungen vorausgehen. Das postuliert er nicht nur negativ (So geht es nicht!) sondern an einer Stelle auch positiv (So würde es gehen!):
... hättest du schon erklärt, was die Tugend ist im Ganzen, ... (so] würde ich sie nun schon erkennen, wenn du sie auch nach ihren Teilen zerstückelst. (79c)
Er sagt das auch nicht nur für den Einzelfall, sondern am Ende des Abschnittes auch allgemein:
Also meine auch du nicht, Bester, solange noch die ganze Tugend, was sie ist, gesucht wird, wenn du ihre Teile in die Antwort hineinbringst, sie dadurch irgend jemandem deutlich machen zu können, noch auch sonst irgend etwas, wenn du es auf eben diese Weise erklärst... (79d)
Hier findet sich Sokrates' Anfangsthese wieder, die der modernen Auffassung so sehr widerspricht. Denn wie soll man definieren, fragen wir heute, wenn man weder Teile noch Eigenschaften dazu verwenden darf? Was würde aus dem Begriff Wirbeltier zum Beispiel, wenn man die Wirbel nicht zur Definition benutzen dürfte?
Dieser Text ist als Hausarbeit
zum Seminar "Platon, Frühe Dialoge"
im Sommersemester 1987 an der 
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 
(die damals noch nicht so hieß)
entstanden.
Für die Veröffentlichung um Web
habe ich ihn leicht überarbeitet.
E-Mail
Urheberrecht: Achim Wagenknecht
http://achimwagenknecht.de
Zuletzt aktualisiert am 26.03.1999