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Platon und die schwarze Kiste


(zu Platon: Menon 70a 79e)
  1. Einleitung
  2. Gesucht: Definition
  3. Definitionsversuche
  4. Fazit

 
 
 
 
 

 

2. Gesucht: Definition (70a, 71b und 79c)

Sokrates lehnt die Frage Ist Tugend lehrbar? ab, solange die Definition der Tugend nicht bekannt ist:
Wovon ich aber gar nicht weiß, was es ist, wie soll ich davon irgendeine Beschaffenheit wissen? (71b)
Er stellt also die These auf: Es ist nicht möglich, irgend eine Eigenschaft eines Dinges X zu kennen, bevor man nicht was X überhaupt ist, ordentlich weiß. (71a) Somit ist die Definition der Tugend die Vorbedingung, die erst erfüllt sein muß, bevor man entscheiden kann, ob die Eigenschaft lehrbar der Tugend zukommt oder nicht.

Ich halte diese These für falsch und die Was-ist-Frage für schlecht gestellt. Leser von Kriminalromanen werden mir bestätigen, daß man oft die Schuhgröße des Verbrechers kennt (von Fußabdrücken), ohne zu wissen, wer er ist. Hier kennt man also eine Eigenschaft des Erkenntnisobjektes, ohne sein Wesen oder seine Natur zu kennen.

Das trifft auch auf geistige Dinge zu. Ich kann zum Beispiel wissen, daß Glaube einem Menschen Halt geben kann, ohne das Wesen des Glaubens erfaßt zu haben. Die Reihe der Gegenbeispiele läßt sich beliebig fortführen, denn das moderne wissenschaftliche Erkenntnismodell arbeitet ja genau so. Die Frage Was ist das? wird hintangestellt, und die Frage Wie verhält es sich? wird untersucht.

Am deutlichsten wird das in dem erkenntnistheoretischen Modell von der Black Box. Hier stellt man sich das Erkenntnisobjekt als schwarzen Kasten vor, von dem man nicht weiß, was er enthält. Wissen kann man nur, was in die Black Box hineingeht (Input) und was aus ihr herauskommt (Output). Was aber die Black Box eigentlich ist, weiß man nicht. Im Krimi sitzt der Täter unerkannt in der schwarzen Kiste, aus der nur Spuren oder Eigenschaften, vielleicht Teile von ihm (Haare z.B.) herauskommen. Diese kennt die Polizei schon, obwohl sie sonst im Dunkeln tappt.

Dennoch braucht man für die Erkenntnis Definitionen. Auch die Black Box muß festgelegt werden, bevor man über sie sprechen kann. Das dient aber nur dazu, daß man sich versteht und nicht im Eifer der Erkenntnis die verschiedenen schwarzen Kisten verwechselt. Es genügt, wenn man über den Täter im Fall X redet. Damit ist das Unbekannte, das man herausfinden will, genau umschrieben. So ist die Definition einer Black Box die genaue Umschreibung von etwas, das man nicht beschreiben kann. Eine solche Umschreibung finden zu wollen ist bescheidener, als die Suche nach dem Wesen der Dinge.

Grundlage für die definierende Umschreibung der Black Box ist die Umgebung dieser Kiste. In dieser Umgebung finden wir den Input und den Output, beide zeigen sich uns, sind uns bekannt. So ist uns von der Tugend zum Beispiel bekannt, daß man den und den tugendhaft nennt. Wir wissen auch, daß man das mit dessen Besonnenheit zum Beispiel, oder Tapferkeit oder Gerechtigkeit begründet. Solches kann uns bekannt sein. Und nur das Bekannte kann zur Definition dienen. Das ist bis heute anerkannte Lehrmeinung, und auch Sokrates selbst sieht das so:

Denn wenn du dich nur erinnern willst, als ich dir vorher antwortete wegen der Gestalt, verwarfen wir eine solche Antwort, welche durch noch zu Suchendes und noch nicht Eingestandenes antworten wollte. (79d)
Nur daß das für ihn seltsamerweise der Grund ist, gerade andersherum vorzugehen. Er will erst im Innern der Kiste das Wesen der Sache finden, um dann daraus Input und Output, alle Teile und Eigenschaften herleiten zu können.

Wir Heutigen glauben dagegen, daß es in der Black Box immer dunkel ist, bis man von außen den Deckel lüpft und sieht, was darin ist: weitere, nach einem bestimmten Muster geordnete schwarze Schachteln. Denn seit Kant die Vorstellung vom Ding an sich entwickelt hat, gibt es nur noch schwarze Schachteln in schwarzen Kisten.

Das Ding an sich ist die Black Box schlechthin. Wenn wir alle schwarzen Kästen geöffnet haben, finden wir zuletzt eine Schachtel mit der Aufschrift: Ding an sich. Absolute Grenze der Erkenntnis. Und doch will Sokrates gerade aus dem Innern dieser Kiste seine Untersuchung beginnen. Wie kommt er dazu? Der Autor des Dialoges kann darüber Auskunft geben: Platon.

Nach dessen Anamnesis-Lehre ist uns nämlich das Wesen der Dinge bekannt. Vor Beginn der Welt waren alle Wesen, die Dinge an sich und die Seelen der Menschen ohne störende schwarze Kästen versammelt, und die Seelen konnten das Wesen der Dinge direkt erkennen. Seitdem schlummert die Erkenntnis in uns, und wir brauchen uns nur daran zu erinnern um die schwarze Kiste von innen zu erleuchten. Von diesem Standpunkt aus ist Sokrates zu verstehen, denn wer das Innere der schwarzen Kiste kennt, der kann in der Tat alle Eigenschaften und Bestandteile aus dieser Kenntnis ableiten.

In der Erkenntnispraxis scheinen Anamnesis und Black Box sehr ähnliche Folgen zu haben: Wenn Sokrates versucht, sich an das Wesen der Tugend zu erinnern, so läuft das auf eine Definition hinaus. Und wenn einer heute versucht, den Begriff Tugend in eine Black Box einzufangen, dann heißt das auch, daß diese Kiste von außen genau beschrieben, also definiert werden muß. Welche Folgen beide Modelle für die Erkenntnis haben, will ich am weiteren Verlauf des Dialoges untersuchen.

Dieser Text ist als Hausarbeit
zum Seminar "Platon, Frühe Dialoge"
im Sommersemester 1987 an der 
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 
(die damals noch nicht so hieß)
entstanden.
Für die Veröffentlichung um Web
habe ich ihn leicht überarbeitet.
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Urheberrecht: Achim Wagenknecht
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Zuletzt aktualisiert am 26.03.1999