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Gedenktag mit Widersprüchen

Glühwein durch eins der ersten Mauerlöcher.

9. November 1988

Ich komme gerade aus dem politischen Buchladen BiBaBuZe am Bilker Bahnhof in Düsseldorf. In meinem Kopf schwarze Gedanken. Heute vor 60 Jahren haben meine Vorfahren Synagogen in Brand gesteckt und damit eine neue Runde der widerlichsten Barbarei der Geschichte eingeläutet. Ob jemand aus meiner Familie daran beteiligt war, weiß ich gar nicht. Das Thema war unbeliebt. Ich habe mich nie zu fragen getraut. Plötzlich höre ich hinter mir ein ungeheuer lautes Klirren und Scheppern. Ich schrecke zusammen, drehe mich um, Bilder von Feuer und Zerstörung im Kopf. Der Glascontainer wird abgeholt. Kann das Recycling nicht bis morgen warten?

Ende November 1989

Ich gehe mit Hunderten anderen an der Berliner Mauer spazieren. Einige schlagen mit Hämmern auf das tödliche Bauwerk ein. Ich habe keinen Hammer dabei. Kurzerhand spreche ich eine eifrig hämmernde Frau an. Sie leiht mir einen Zimmermannshammer, 250 Gramm schwer, mit Gummigriff. Es macht großen Spaß, auf den harten Beton einzudreschen. Viel erreichen kann ich aber nicht. Die Mauer bestand aus erstklassigem Hartbeton. Mehr als fingernagelgroße Stücke bekomme ich nicht heraus. Zwei davon hebe ich auf. Eins schicke ich meinem Freund Wolfgang nach Burkina Faso. Er macht dort Entwicklungsdienst und verfolgt die Ereignisse in Deutschland im Radio.

 

 

 

Das andere Mauerstück hängt heute noch an meiner Pinnwand. Wir gehen weiter an der noch real existierenden Mauer entlang. Volksfeststimmung macht sich breit. Jemand hat einen improvisierten Glühweinstand aufgestellt.. Nicht weit davon ist eins der ersten Löcher in der Mauer, gerade handbreit. Auf der anderen Seite sehe ich zwei Volkspolizisten. Ich kaufe zwei Becher Glühwein und reiche sie durch das Loch. Die Vopos nehmen an. Wir prosten uns zu.

Später schickt mein Vater mir einen Zeitungsausschnitt. In der Rheinischen Post ist ein Foto von mir abgebildet. Ein Fotograf von Associated Press hat mich beim Hämmern abgelichtet. "Mauerspecht" steht unter dem Bild.

 

Vor kurzem war ich wieder in Berlin. Beim Autofahren irritierte mich plötzlich eine rote Linie, die quer zu sämtlichen Fahrbahnmarkierungen über die Straße läuft. Hier stand die Mauer.

Inzwischen gehöre ich zur Eltern-Generation und sehe ich eine neue Generation kleiner Deutscher heranwachsen. Drei, vier, fünf Jahre sind sie jetzt alt. Manchmal stelle ich mir vor, wie ich einem Kind von der Mauer erzähle, die einmal mitten durch Berlin ging. Oder von brennenden, brutal zerstören Synagogen. Ob es mir glauben wird, dass dieser Irrsinn wirklich passiert ist?

Ein kleines Stück Berliner Mauer


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Zuletzt aktualisiert am 09.02.2006